Zocken im Strom-Casino

Die Stromversorgung wäre eigentlich ein Service Public. Doch die Versorger zocken mit Kilowattstunden-Chips, als gäbe es kein Morgen. Vielleicht kriegen wir deswegen zu Weihnachten ein höchst unerfreuliches Geschenk von Stadtwerk.

35%. Soviel mehr zahlen wir Winterthurerinnen und Winterthurer für den Strom im Jahr 2023. Das ist nicht lustig, aber als Haushalt kann man mit mehr Achtsamkeit und Sparbemühungen einen Teil des Mehrpreises wettmachen.

 

KMUs und grössere Unternehmungen schaffen das nicht. Pizzabäcker, Lebensmittelhändler oder – wie in meinem Fall – die Telekommunikationsindustrie können ihre Öfen, Kühlschränke und Router nicht einfach während einem Drittel der Zeit abschalten. Das sind Herausforderungen, die wir als Gesellschaft schon sehr lange nicht mehr erlebt haben. Ein Beispiel: Ich rechne bei Init7 für die in der ganzen Schweiz verteilten Telekom-Geräte im nächsten Jahr mit 300000 Franken höheren Stromkosten. Wir werden es irgendwie zahlen müssen, denn ohne Strom gibts kein Internet und keine Kunden. So ähnlich geht es vielen KMU.

 

Selbstredend, dass die explodierenden Strompreise die Inflation ankurbeln. Erste Beizer haben begonnen, ihren Gästen einen «Stromzuschlag» zu verrechnen. Das ist nachvollziehbar, doch manche Gäste kommen deshalb vielleicht weniger häufig essen.

 

Wer ist «Schuld» an der Strom-Misere? Man konnte so ziemlich alles lesen: Putin, der Atomausstieg, Simonetta, die Stromautobesitzer*innen, CO2-Abgaben und und und. Natürlich ist fast alles Quatsch, denn die Produktionskosten von nachhaltig produziertem Strom gehen nicht über Nacht rauf. Ein Wasserkraftwerk oder eine PV-Anlage produziert immer noch zu denselben Gestehungskosten wie vor der durch die Medien aufgebauschten Stromlücke.

 

Natürlich will ich die mögliche Strommangellage nicht kleinreden. Man muss alles dafür tun, dass es nicht zum Blackout oder Brownout (Absinken der Frequenz im Netz wegen Überlast) kommt. Doch manche Preissteigerungen am internationalen Strommarkt sind absolut irrational. Das passiert, wenn man eine Aufgabe des Service Public, also die Stromversorgung, fast unreguliert dem freien Markt überlässt. Die freisinnige Doktrin «der Markt regelt alles» funktioniert eben längst nicht immer und schon gar nicht, wenn niemand ein natürliches oder politisch gewolltes Monopol ausnützen kann.

 

Der Handel am Strommarkt ist ein Termingeschäft, also ein Business mit dem noch gar nicht produzierten Strom in der Zukunft. Das geht so: «Ich Energieversorger verkaufe dir Unternehmen auf dem freien Markt 15 Gigawattstunden Strom zum Preis von 10,362 Rappen pro kWh, lieferbar in den Jahren 2024 bis 2028. Deal? Deal!» Dass der Energieversorger selber auch Strom zu einem besseren Preis zwecks Marge erst noch einkaufen muss, braucht den Kunden nicht zu interessieren. Bisher hat ja alles bestens funktioniert und es wurden fette Margen erzielt.

 

Der grösste Schweizer Stromversorger AXPO, notabene im Besitz verschiedener Ostschweizer Kantone, hat offensichtlich in einem Mass an der Strombörse gezockt, dass der CEO Christoph Brand jüngst unsere Genossin Simonetta um Feuerwehr-Dienste gegen den «Brand» in seinem Laden bitten musste. Unsere Bundesrätin hilft kurz schnurz mit 4 Milliarden oder dem Gegenwert von 4000 Einfamilienhäuschen. Denn AXPO hat zig solche Termingeschäfte laufen.

 

Natürlich ist AXPO nicht allein. Auch Stadtwerk Winterthur ist kräftig am gambeln im Stromkasino. Im Sommer 2021 wurde in einer Medienmitteilung voller Freude verkündet, dass man ab 2024 Strom an die ETH, an die Uni Zürich und ans KSW verkaufen könne (Grosskunden mit einem Verbrauch über 100000kWh können den Lieferanten frei wählen – so sieht es das Gesetz vor). Stadtwerk verkauft also in der Zukunft an diverse Grosskunden zum fixen (tiefen) Preis, und dies, obwohl Stadtwerk im Gegensatz zur AXPO nur wenig Strom selber produziert (KVA, diverse Fotovoltaik-Anlagen, etwa 15% des Verbrauchs der Stadt). Ob aber auch die Beschaffung des ab 2024 an Grosskunden «verkauften» Stroms bereits stattgefunden hat, will ich deshalb vom Stadtrat in einer Schriftlichen Anfrage wissen.

 

Ich fürchte nämlich, dass sich Stadtwerk im Stromkasino kräftig verzockt hat. Machen wir die Milchbüechlirechnung: 26 Gigawattstunden sind 26 Millionen Kilowattstunden. Verkauft an 2024 an Grosskunde X für z.B. 12 Rappen. Alles kein Problem, wenn der Strom wie bisher zu z.B. 10 Rappen beschafft wird. Das wäre 520000 Franken Bruttomarge. Kostet die Beschaffung jedoch plötzlich 20 statt 10 Rappen pro kWh, würde jede «verkaufte« kWh mit 8 Rappen Verlust resultieren, was in über 2 Millionen Franken Defizit endete. Aussteigen aus dem Liefer-Vertrag kann Stadtwerk natürlich nicht.

 

Die Wärmering-Affäre von Stadtwerk verursachte seinerzeit einen Schaden von etwa 1,6 Millionen Franken, die Stadtwerk-Manager kamen vor Gericht, und der zuständige Stadtrat trat früher zurück, als er eigentlich vorhatte. Doch das Wärmering-Debakel scheint im Vergleich zu möglicherweise ungesicherten Risken in Millionenhöhe des Profit Centers Stromhandel von Stadtwerk wie Nasenwasser.

 

Spätestens an Weihnachten wissen wir, ob und falls ja, wie weit sich Stadtwerk aus dem Fenster gelehnt hat. Wer die allfällige Stromkasino-Millionen-Zeche zahlt, ist hingegen bereits klar: Du und ich. Möge uns dieses Schicksal erspart bleiben.