Opfer des eigenen Erfolgs

«Wir erleben das Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts in der OECD-Welt. Noch nie haben so viele Menschen so breitgefächerte Möglichkeiten gehabt wie am Ende der sozialdemokratischen Epoche.» Diese Aussage stammt nicht aus dem Jahr 2016, sondern aus dem Jahr 1983 und wurde vom Soziologen Ralf Dahrendorf formuliert. Sinngemäss lautete die Prognose: Die Sozialdemokratie hat ihre (wichtige und verdienstvolle) Aufgabe erfüllt, es braucht sie nun nicht mehr, ihr Einfluss und ihre Gestaltungskraft werden zurückgehen.

Wer die aktuelle Entwicklung der sozialdemokratischen Parteien in Europa betrachtet, könnte tatsächlich den Eindruck erhalten, dass diese Prognose Wahrheit wird. In Deutschland befindet sich die SPD bei Wahlen auf Länderebene da und dort im freien Fall. In Österreich war der SPÖ-Kandidat für die Bundespräsidenten-Wahl ohne den Hauch einer Chance. In der ehemaligen sozialdemokratischen Hochburg Skandinavien regieren in Dänemark, Norwegen und Finnland Bürgerliche. Und wie die letzten nationalen Wahlen in der Schweiz ausgegangen sind, ist bekannt.

 

 

Ist es so, dass die Sozialdemokratie am «Verwelken» ist, wie das die NZZ kürzlich getitelt hat? Ich halte das für Unsinn. Richtig ist, dass es eine politische Konjunktur gibt und diese derzeit nicht vorteilhaft für die Linke ist. Aber das ändert sich wieder. Wie lange wurde beispielweise vom Niedergang der FDP gesprochen – bis sie 2015 wieder zulegen konnte und seither von einem Revival des Liberalismus die Rede ist? Richtig ist doch auch: Zahlreiche Gesellschaften und Staaten in Europa sind heute sehr viel stärker sozialdemokratisch geprägt, als dies noch vor einigen Jahrzehnten der Fall war. Vielen Menschen geht es dadurch deutlich besser als früher. Richtig ist ebenso: Verschiedene sozialdemokratische Haltungen wurden von anderen politischen Richtungen übernommen – die Flüchtlingspolitik von Angela Merkel lässt grüssen. Das sind Erfolge und Verdienste, an die erinnert werden muss.

 

 

Selbstverständlich reicht der Blick zurück aber nicht, es braucht auch den Blick nach vorne. Die historische Aufgabe der Sozialdemokratie ist keineswegs erfüllt. Zentrale Anliegen wie sozialer Ausgleich, Zusammenhalt, Chancengerechtigkeit, Demokratisierung, Minderheitenschutz, internationale Zusammenarbeit sind nicht von gestern, sondern sind brandaktuell – gerade jetzt, wo der Rechtspopulismus auf dem Vormarsch ist und Politiker von Donald Trump bis zu Roger Köppel Stimmungsmache betreiben und den Staat und seine Institutionen demontieren wollen. Dahrendorf schrieb 1983 auch: «Sozialdemokraten haben das, was wir etwas lose Demokratie nennen, durchgesetzt und verteidigt. Die Verbindung von Rechtsstaat und den Institutionen der offenen Gesellschaft ist die politische Form der sozialdemokratischen Epoche.» Voilà: Wer will da behaupten, es brauche die Sozialdemokratie nicht mehr? Es braucht sie zukünftig genau so, wie es sie auch in der Vergangenheit gebraucht hat.